

1913 - Ein lesenswertes Buch über das Jahr vor der Jahrhundertkatastrophe

Nein, solch ein reifes und schön zu lesendes Buch hätte ich Florian Illies nicht zugetraut. Von dem aus Schlitz im Vogelsberg, also unmittelbar aus der hessischen Nachbarschaft, stammenden Autor – Vogelsberg und Spessart sind sich in ihrer bodenständigen Bevölkerung ja auch sehr ähnlich, hätte ich eher ein komplizierteres Buch erwartet. Denn Illies schrieb früher für das Feuilleton der FAZ und der Zeit. Und dort sind eher schöngeistige Texte, meist mit vielen Nebensätzen, Standard. Also nichts für jemand, der samstags um halb sieben gerne die Sportschau guckt und dabei ein Seppel’sche trinkt. Allerdings hat Florian Illies als Kind und Jugendlicher nach dem samstäglichen Bad früher auch die Sportschau geguckt. So schrieb er es zumindest in seinem im Jahr 2000 erschienen Erfolgsbuch „Generation Golf“. Wer die „Generation Golf“ von Illies kennt, ist von seinem neuen Buch „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“, dem Jahr vor der Jahrhundertkatastrophe, dem Ersten Weltkrieg, positiv überrascht. Denn 1913 ist ein unterhaltsames, mit sehr vielen Anekdoten gespicktes und insgesamt reifes Buch. Während die Generation Golf mit ihren Jugenderinnerungen vor allem die Generation, der um 1970 geborenen anspricht (also die „Wohlstandskinder“, die mit 18 oder 19 gleich ihr eigenes Auto bekommen haben), ist „1913“ für jedefrau und jedermann lesenswert. Für den, der sich bilden will, sogar empfehlenswert. Nun ja, Illies ist inzwischen auch über 40 Jahre alt und verfügt über Lebenserfahrung, die diese schöne Buch, das auch von einem Dichterfürst wie Martin Walser geschrieben sein könnte, erst möglich machte.

1913 handelt nach Monaten geordnet vom Jahr 1913, das ein schönes war. Zahlreiche Personen aus Politik, Kunst und Literatur tauchen in dem Buch mit Anekdoten aus diesem Jahr auf: Adolf Hitler, der als Postkartenmaler mittellos in einem Arbeiterwohnheim in Wien lebte, Josef Stalin, der sich auf der Flucht vor dem Zaren zur selben Zeit in Wien befand; der 83-jähige österreichische Kaiser Franz Josef (seine Gattin Sisi war Jahre zuvor schon von einem Anarchisten ermordet worden). Maler wie Picasso und Kokoschka. Und Dichter wie Thomas und Heinrich Mann, Rilke, der junge Brecht oder Franz Kafka. Doch auch andere Ereignisse des Jahres finden sich in diesem erstaunlichen Buch wieder: Zum Beispiel dass 1913 die Ozonschicht entdeckt wurde oder dass die US-Notenbank Fed gegründet wurde. Oder auch den heißen Sommer und die beliebtesten Namen dieses Jahres. Die beliebtesten Vornamen des Jahres 1913 waren übrigens: „Gertrud, Marta, Erna, Irmgard, Charlotte, Anna, Ilse, Margarete, Maria, Hertha, Frida, Else.“ Und bei den Buben: „Karl, Hans, Walter, Wilhelm, Kurt, Herbert, Ernst, Helmut, Otto, Hermann, Werner, Paul, Erich Willi. Manche der Vornamen werden auch heute, 100 Jahre später, gerne vergeben wie zum Beispiel Anna, Maria, Hans oder Paul. Interessant sind auch die Anekdoten über den schüchternen Dichter Franz Kafka und sein Briefwechsel mit seiner Angebeteten Felice Bauer.
Im Buch 1913 heißt es wörtlich: „In der Nacht vom 22. zum 23. Januar schreibt er seinen etwa zweihundertsten Brief an Felice Bauer und fragt: ‚Kannst Du eigentlich meine Schrift lesen?“ Stalin und Hitler sind zu Jahresbeginn 1913 in Wien und könnten sich, zumindest theoretisch, dort begegnet sein. Das 20. Jahrhundert mit den katastrophalen Weltkriegen schimmert in „1913“ bereits durch. So schreibt Illies in seinem Buch: „Am 20. April wird Adolf Hitler vierundzwanzig Jahre alt. Er sitzt im Männerwohnheim in der Wiener Meldemannstraße 27 im Bezirk Brigittenau und malt im Aufenthaltsraum Aquarelle. …“ Zum Glück wussten die Menschen 1913 nicht, welch schlimme Zeiten danach kommen. Wir Nachgeborenen wissen es aber und können manche Dinge wie die in „1913“ dargestellten Erhöhung der Rüstungsausgaben, den uralten Kaiser in Österreich-Ungarn und Unruhen auf dem Balkan schon deuten. Gerade das macht auch den Reiz dieses Buches aus. In „1913“ nicht dargestellt ist der Erste Weltkrieg, der bald 100 Jahre her ist. Als dieser ausbrach, haben die Menschen in ganz Europa noch gejubelt. Beim zweiten Krieg wurde nicht mehr gejubelt, weil die Menschen nach dem ersten Krieg den Krieg kannten. Was viele heute nicht mehr wissen, aber Opa und Oma uns erzählt haben: „Der erste Krieg war noch viel schlimmer als der zweite, nicht nur wegen den vielen Toten und Verwundeten im Krieg, sondern weil wir nichts mehr zu essen hatten und viele verhungert sind.“ (wrü) // Foto1 – Quelle: S. Fischer Verlag // Foto2: © Marek Pozniak
Gepostet in:
