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Regionale Geschichte: Das Versuchsatomkraftwerk Kahl / Karlstein

Großwelzheim – ein eher unscheinbarer Ortsteil im Westen von Bayern. Was gibt es über ihn zu berichten? Er gehört zur Gemeinde Karlstein am Main, hat knapp über 4.300 Einwohner, einen Kindergarten, eine Schule, eine Kiesgrube und ein Naherholungsgebiet. Eigentlich kein sehr besonderer Ort, könnte man jetzt meinen. Hätte er nicht ein Gemeindewappen, das auf den zweiten Blick irgendwie stutzig werden lässt. Denn das Wappen ziert unter anderem ein Atomsymbol.


Das ehemalige Versuchsatomkraftwerk Kahl © de.wikipedia.org / Apfel3748 / Lizenz: CC BY-SA 3.0

Die Geschichte, die zu diesem sonderbaren Wappen führte, steht fast schon spiegelbildlich für die Entwicklung der Atomenergie im Ganzen. Einst bejubelt und mit großen Erwartungen verknüpft, dann immer mehr mit Zweifeln, Ängsten und Protesten verbunden, neigt sich die Ära der Atomenergie in Deutschland nun, wie es aussieht, ihrem problembeladenen Ende zu. In Großwelzheim hat man Aufstieg und Verschwinden der Atomindustrie bereits durchlebt und war damit sowohl zu Beginn, als auch am Ende in einer Vorreiterrolle.

Bau in Rekordzeit: als Atomstrom noch begeistert willkommen geheißen wurde

Von dem, was Großwelzheim das Atomsymbol im Wappen eintrug, ist heute eigentlich nichts mehr übrig. Einst beherbergte Großwelzheim aber Deutschlands erstes Atomkraftwerk. 1958 begann man hier mit der Errichtung der als „Versuchsatomkraftwerk“ (VAK) bezeichneten Anlage. Sie sollte dazu beitragen, mit den, auf diesem Gebiet damals führenden Ländern USA und Großbritannien, zukünftig mithalten zu können. Nach dem Krieg hatte Deutschland zunächst keine Atomforschung betreiben dürfen und befand sich nun im Rückstand. Während man über die mögliche Aufrüstung mit Nuklearwaffen politisch uneins war, herrschte in Sachen zivile Nutzung der Kernenergie Einigkeit zwischen den Parteien. Man wollte den Einstieg ins Zeitalter der Atomenergie nicht verpassen. Der wurde damals in der Bevölkerung ebenfalls größtenteils willkommen geheißen. Auch in Großwelzheim stieß der Bau des Reaktors auf großen Zuspruch. Der Ort war stolz auf die innovative Technologie und freute sich über Arbeitsplätze und Familienzuzug.

In rekordverdächtigen nur 29 Monaten wurde der erste kommerziell genutzte Meiler Deutschlands errichtet. Bereits im Juni 1961 speiste der Siedewasserreaktor mit einer schon damals eher geringen Leistungsstärke von 16 Megawatt zum ersten Mal Strom ins Netz ein. Er produzierte damit gerade einmal genug Strom für eine kleine bis mittelgroße Stadt.

Obwohl sie sich in Großwelzheim befand, wurde die Nachbargemeinde Kahl zum Namensgeber für das AKW, da der Name wohl weniger sperrig erschien und Kahl zumindest einen Bahnhof vorweisen konnte.


Kurz vor dem Rückbau der Reaktorkuppel © de.wikipedia.org / Sebastian Suchanek / Lizenz: CC BY-SA 2.5

Der Filmemacher Haro Senft widmete dem Bau und der Inbetriebnahme den Kurzfilm „Atomkraftwerk Kahl“ und wurde damit 1962 sogar für den Oscar nominiert. Der Enthusiasmus hielt an und 1965 nahm Großwelzheim dann das Atomsymbol in sein Wappen auf.

Erst im Laufe der 70er Jahre formierte sich eine Bürgerinitiative gegen das AKW, nachdem immer wieder Störfälle publik wurden, darunter ein totaler Stromausfall nach einem Blitzeinschlag im Jahr 1968, bei dem Probleme mit der Notkühlung des Reaktors auftraten. Die Proteste blieben jedoch klein und hatten letztlich keine Auswirkungen auf den Betrieb des Reaktors.

Langwieriger Abschied: vom ersten Atomkraftwerk zum ersten Rückbau

Noch bevor die Kernenergie infolge der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1989 erstmals ernsthaft in Frage gestellt wurde, fand sie in Großwelzheim bereits ihr Ende. Das VAK war als Langzeitversuch gedacht gewesen und fand nach 25 Jahren Laufzeit und 150.000 Stunden in Betrieb planmäßig sein Ende. Der Versuchsreaktor hat in dieser Zeit 2,1 Milliarden Kilowattstunden Strom produziert. 90 Mal traten Defekte oder Störfälle auf, davon wurden sieben als ernsthaft eingestuft.

1985 erfolgte die Stilllegung des VAK, 1987 begann man mit dem Rückbau. Kein kleiner Aufwand, wie man sich denken kann, insbesondere auch deshalb, weil der Rückbau des Reaktors ein ebenso neuartiges Unterfangen war, wie einst seine Errichtung. Unter anderem musste der stark radioaktive Reaktormantel mithilfe eines ferngesteuerten Baggers abgetragen werden. Dieses Vorgehen musste aber zuerst an einem Nachbau erprobt werden. Hatte die Errichtung des Kraftwerks umgerechnet nur etwa 17 Millionen Euro gekostet, verschlang der Rückbau ganze 150 Millionen. Immer noch günstig, wenn man bedenkt, dass für den Rückbau neuerer Anlagen gern einmal 500 Millionen und mehr veranschlagt werden. Erst 2010 war der Rückbau des VAK vollständig abgeschlossen und dauerte damit in beinahe so lange an wie die vorherige Laufzeit des Reaktors.

Was ist vom Reaktor geblieben? Nicht viel, könnte man meinen, wenn man den Blick nur auf Großwelzheim richtet. Hier hat das Kraftwerk Platz für ein neues Gewerbegebiet geschaffen. Die Strahlungswerte dort sind unauffällig. Es wächst – im wahrsten Sinne des Wortes – Gras über die nukleare Vergangenheit des Ortes und nur noch das Gemeindewappen erinnert an das, was hier einmal als Zukunftstechnologie gedacht war. In Großwelzheim steht man zu dieser Vergangenheit und so ist das Symbol im Wappen geblieben. Wo man einst stolz auf die neue Technologie war, gibt man sich heute zufrieden über den gelungenen Rückbau. Ganz in Wohlgefallen auflösen und nur eine harmlose Wiese zurücklassen kann ein Kernreaktor aber eben doch nicht. 1,4 Tonnen radioaktiv verseuchter Müll sind beim Rückbau angefallen. Sie befinden sich in einem Zwischenlager in der Oberpfalz und warten dort darauf, ob sich die Frage nach einem geeigneten Endlager jemals zufriedenstellend beantworten lassen wird.

Für Großwelzheim ist die Atomenergie nur ein Zwischenspiel gewesen. Der Reaktor ist gekommen und wieder verschwunden. Damit hat man dort schon erlebt, was woanders erst in Planung ist, denn werden die aktuellen Pläne weiter umgesetzt, soll in Zukunft die Atomenergie immer mehr aus Deutschland verschwinden. Bis dahin werden noch einige Reaktoren abzubauen und Probleme zu lösen sein. Ein Prozess, den man in Großwelzheim schon hinter sich hat.


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